Ein. Klang.

Ein sehr privates Resümee zu Ultraschall Berlin – Festival für Neue Musik 2014

In den vergangenen Wochen habe ich mir etwas gegönnt – ich habe ein Festival besucht. Privat. Aus purer Neugier und mit viel Raum für die Ohren. Gerade aus dem Luxus heraus, nicht beruflich werten und verwerten zu müssen entspringt der Wunsch, persönlich dazu zu schreiben.

Ultraschall Berlin bot auch in diesem Jahr ein Spektrum Neuer Musik mit einem klaren Schwerpunkt auf noch lebende Komponisten. Und das ist auch schon eine der wunderbaren Eigenheiten dieses Festivals – viele Komponisten sind ganz selbstverständlich vor Ort. Sie begleiten die Proben ihrer Uraufführungen und bleiben um zu lauschen, was die Kollegen gerade so komponiert haben. Auch Berliner Komponisten die in diesem Jahr nicht im Festival vertreten sind, sind an nahezu an jedem Abend da – einige sogar mit ihren Kindern. Es herrscht eine familiäre Stimmung.

Schon der Prolog im Berghain zum 1.000.051. Art's Birthday besticht durch Intensität. Er beginnt mit Hanna Hartmanns „The Lost Lines", in dem neben Streusalz, einem Messer in einer Melone und Stahlstäben Instrumente wie Klarinette und Trommeln eine tragende Rolle innehaben. Das Festival beginnt also vor allem mit Geräusch und dem Spiel mit Wahrnehmung. Von der Eröffnung im Haus des Rundfunks bleibt mir vor allem Klaus Hubers „Tenebrae" in Erinnerung. Dies mag einerseits am charmanten Gespräch mit dem Komponisten in der vorausgehenden Umbaupause liegen – aber sicherlich auch an der für mich zeitlosen Komposition Hubers und deren unfassbar sachtem Verklingen am Ende. Der darauf folgende Abend im HAU 2 ist vollgepackt mit sechs Uraufführungen junger Komponisten durch drei junge Ensembles. Welch ein Reichtum! Wie angekündigt, war Vielfalt absolut erwünscht und so wird tatsächlich gefrickelt, geruckelt, gelacht, geschoben, mit Tönen, Worten und Bildern gespielt und bis zur Ekstase gedröhnt wie in Hikari Kiyamas „Kojiki". Puh. Erste Ohrenermüdungserscheinungen machen sich bemerkbar. Eine Nachtwanderung durch den Schnee ist nötig, um das Gehörte wieder halbwegs zu verstauen.

Der nächste Abend ist vom Umfang her der Anlauf für das pralle Wochenendpensum des Festivals – es gibt zwei Konzerte. Das erste mit dem Osloer Ensemble "asamisimasa" eröffnet einen ganz eigenen Kosmos an Klängen und Bewegungen. Besonders präsent geblieben ist mir Max Wainwrights „Radio 1" – ein Hörstück und gleichwohl eine Choreographie aus Rückkopplungen. "asamisimasa" öffnet den Raum und zeigt, dass dieser Abend im großartigen Theaterbau des HAU 1 bestens aufgehoben ist, indem die Musiker sich bewegen, Raum auch körperlich einnehmen und dabei klangvoll erfahrbar machen. Das anschließende Konzert im HAU 2 ist ein Komponistenporträt der Schwedin Malin Bång, die als DAAD-Stipendiatin ein Jahr lang in Berlin lebte und Orte, Objekte und Klänge sammelte. Ihre musikalische Auseinandersetzung mit der Stadt und ihren sich verändernden Orten ist vielleicht das politischste Konzert des Festivals. Die Diskurse um das Tacheles und das Tempelhofer Feld haben darin ebenso Raum, wie die „Berlin Objects", die die Kompostionen durch eine visuelle Komponente erweitern. Der Festivalsamstag, wegen der Stücke für Stimme und den „Klassikern" von Steve Reich, Peter Eötvös und György Ligeti mit größter Vorfreude erwartet, fällt aus persönlichen Gründen für mich aus. Die vergangenen Festivaltage haben einen leicht rauschhaften Zustand ausgelöst – dieser Tag bringt zwar eine Pause für die Ohren, birgt aber auch leichte Entzugserscheinungen.

Der Sonntag bietet mit drei Konzerten noch einmal eine geballte Ladung Eindrücke. Im RADIALSYSTEM V geht das Ensemble Garage verblüffend neue Wege in der Neuen Musik. Sie spielen mit den Ebenen von Livemusik und Videoreproduktion, mit virtuellen und realen Welten und Wahrheiten. Für mich sind sie die größte Entdeckung dieses Festivals. Danach noch einmal das Deutsche Symphonie Orchester im Haus des Rundfunks. Zum Festivalabschluss gibt es nichts Geringeres als eine Uraufführung von Giacinto Scelsi – ein viertel Jahrhundert nach seinem Tod. „Kamakala" (ein Begriff aus der tantrischen Meditation in Vereinigung) ist ein für Scelsi ungewohnt rhythmisch vielfältiges Stück von hoher Intensität. Das anschließende „Schreiben" von Helmut Lachenmann ist für mich das perfekte Schlussstück dieser Ausgabe von Ultraschall Berlin. Lachenmann, der sich schon in seinem „Mädchen mit den Schwefelhölzern" mit Gudrun Ensslins Satz „Schreibt auf unsere Haut" auseinandersetzte, verfolgt die Idee den Akt des Schreibens hörbar zu machen, bis ins nahezu unerträgliche. Er verlangt einem brillianten DSO unter Lothar Zagrosek ungewohnte Klänge ab und setzt einen fulminanten Schlusspunkt hinter ein pralles Festival.

Der Epilog ist mir dadurch schon fast eine – vor allem theoretisch interessante – Fußnote. Zwei Stücke von Mathias Spahlinger setzen sich mit der Idee einer demokratischen Musik auseinander. Was passiert, wenn die gewohnten (Orchester)Strukturen aufgebrochen werden – wie klingt ein Orchester, wenn es lediglich aus Solisten besteht wie in „und als wir"? Oder, wenn die Musiker einer nach dem anderen aus der Tuttistruktur ausbrechen und eigene Klangwege gehen? Doch am Ende, bleiben die Stücke durchkomponiert und dirigiert. Wie viel Demokratie und Selbstbestimmung und individuelle Freiheit verträgt die Neue Musik also wirklich? Als ich diese Frage einige Tage darauf mit befreundeten Jazzmusikern bespreche, beginnen deren Augen zu leuchten. Tatsächlich hat fast jeder von ihnen inzwischen auch Neue Musik komponiert. Für den Vibraphonisten David Friedmann schrieb die in Berlin lebende Komponistin Leah Muir sogar ein Stück für Orchester und improvisiertes Vibraphon. Ich bin schon sehr gespannt auf diese Begegnung zweier Musikformen und würde mich freuen, wenn diese auch mehr und mehr Raum in Festivals für Neue Musik findet.

Resümee

Es gab Zeiten, da habe ich kaum ertragen, mich Neuer Musik zu stellen. Zeiten, in denen mich ein Stück der Dekonstruktion einfach mit „dekonstruierte". Darin liegt aber auch die große Chance dieser Musik. So wie uns eine Bachkantate erheben kann, wir uns an der Leichtigkeit eines Mozartstückes erfreuen oder wir vielleicht mit dem langsamen Satz einer Mahlersymphonie in Melancholie baden mögen – so gehören auch all´ die anderen Wesenszüge und Lebensumstände zu uns. Und damit gehören sie auch in die Musik. Und auf die Bühnen. Und in die Medien.

Es gilt, sich darauf einzulassen. Ob man nun hineinspringt oder kritische Distanz wahrt. Es gilt neugierig zu sein. Und wenn am Ende die Erkenntnis "Die Welt ist Klang" bleibt, dann hat ein Festival für Neue Musik viel erreicht. Wie in diesem Winterwindmoment, aufgenommen vor dem Haus des Rundfunks nach dem Festival.